Über das Schreiben eines literarischen Tagebuchs
22. Januar 2008


Die kritische Frage sei angebracht: Wessen Tagebücher sind schon von mehr als persönlichem Interesse? Es gehört wohl ein gewisses Mass Vermessenheit dazu, sein Leben für erzählenswert zu halten. Angesichts der kaum mehr zählbaren Menge Blogs im Internet, ist es an der Zeit, die Kunstform des literarischen Tagebuchs wieder zu beleben. Für Max Frisch war das Tagebuch die typische Prosaform, worin neben der Schilderung realer Ereignisse Fiktives als gleichberechtigtes Mittel akzeptiert wird. Somit ist ein literarisches Tagebuch kein joural intime, dessen Veröffentlichung in einem exhibitionistischem Akt der Befriedigung voyeuristischer Bedürfnisse des Publikums dient, sondern eine literarische Bewusstseinsschilderung des Autors. Vielleicht ist sie sogar die ehrlichste Prosaform, denn der Autor ist der Protagonist. Max Frischs «Tagebuch 1946–1949» gehört zum literarischen Kanon des 20. Jahrhunderts. Seine Beschreibungen der Trümmerberge wo sich vor den allierten Bomben deutsche Städte befunden haben, sind nüchterne und feine Beschreibungen der darniederliegenden Welt. Frisch schämt sich fast, als Schweizer, und deshalb vom Krieg Verschonter, die Welt zu betrachten. Weil er nur beobachtet und das Gesehene nicht wertet, wird sein Text zur Kameralinse für uns Nachgeborene, die Trümmerland nur aus dem Geschichtsunterricht kennen.

Ein öffentliches Tagebuch zu schreiben hat weniger mit Vermessenheit denn mit Konzept zu tun. Beim Tagebuch ist von Beginn an klar, dass es um das Ich des Erzählers geht; wie im eigenen Leben, das eine Geschichte ist, in der wir als Person die Hauptrolle spielen, da sich in erster Linie alles um einen dreht. Doch gerade das Tagebuch bietet mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken, als es in jeder anderen Prosaform möglich ist: «Unterschied zwischen dem erzählerischen ICH und dem direkten ICH des Tagebuchs: das letztere ist weniger nachzuvollziehen, gerade weil es zu vieles verschweigt (...)Was an einem öffentlichen Tagebuch fragwürdig bleibt: die Aussparung von Namen und Personalien aus Gründen von Takt. (...) Woher nehme ich das Recht, den anderen auszuplaudern?», hält Frisch in seinem «Tagebuch 1966–1971» fest. Und bringt es in «Montauk» auf den Punkt: «Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten.» –

Mit seinen bewusst gesetzten Gedankenstrichen am Ende von Abschnitten, lässt Frisch die Leser die Geschichte selber fertig formulieren. Sein erstes Tagebuch liest sich deshalb auch zwischen den Zeilen. Frisch ist ein Meister in der hohen Kunst des Gedankenstrichs.

Über diesem literarischen Tagebuch trohnt als Motto Max Frischs Feststellung aus: «Mein Name sei Gantenbein»: «Zwei oder drei Erfahrungen, wenn’s hochkommt, das ist’s was einer hat, wenn er von sich erzählt, überhaupt wenn er erzählt: Erlebnismuster – aber keine Geschichte. (...) Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» Ein Monster vor Aussage, die so nicht stimmt. Frisch Begründung liegt in der Erkenntnis, dass ein Mann eine Erfahrung gemacht hat und diese nun verstehen wolle. Deshalb probiere er Geschichten wie Kleider an. Keine dieser Geschichten aber würde seinen Erfahrungen gerecht, da das Wesentliche für die Sprache unsagbar bleibe. Doch Frisch irrt sich, da er damit die Möglichkeit des aus seinen Fehlern zu lernen in Abrede stellt. Ein nicht unwesentlicher Vorgang beim Schreiben eines Tagebuchs.

Wie aber widerspricht man einem längst verstorbenen Meister? In dem man mit ihm in eine lustvolle Auseinandersetzung tritt und dabei versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Im Falle von Max Frisch ist es die Kunstform des literarischen Tagebuchs, für einen arrivierten Schriftsteller schon knifflig genug, ist es für einen jungen Schriftsteller ein Berg von einer Aufgabe, bei welcher er fast nur scheitern kann. «The World Tonight» vertritt nicht den Anspruch an, zum literarischen Kanon des 21. Jahrhunderts zu gehören, ob es dies tun wird, werden meine Enkel in 92 Jahren erfahren, sondern es soll in seiner Komposition Max Frischs zentrale Aussage aus Gantenbein wiederlegen und zeigen, dass jeder Mensch eine Geschichte hat. Dass er deswegen erzählt und sich dabei auch nicht verraten muss.




max frisch tagebuch

 

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