Limmattal
27. Dezember 2009


Der Föhn hat sich resistenter erwiesen, als es ihm vor zwei Tagen von den Meteorologen attestiert worden war. Die morgendliche Aussicht wie aus dem Bilderbuch: Irgendwo hin-
ter der Stadt erheben sich als majestätisches weisses Band die verschneiten Alpen, über ihnen ein wolkenloser blauer Himmel. Spaziere von Albisrieden kommend dem Lyrenweg entlang. Obwohl es bereits gegen Mittag ist, liegt der Lyrenweg noch im Schatten. Die Blätter auf dem Boden und die Wiese sind gefroren, zugedeckt von kristallinem Raureif in verschwenderischer Pracht. Die Szenerie erinnert farblich an den militärischen Tarnanzug, jedoch von einer Schönheit, die dem Alpenpanorama in nichts nachsteht. Die Kälte hat die Intensität der Farben des gefallenen Laubes verblasst und doch konserviert. Jede einzelne Blattader ist gestochen scharf und tritt reliefartig hervor, überzogen von einer zuckrig kristallinen Schicht Reif. Trotz des Kältegraus, das sich der Blätter bemächtigt hat, ist bei den Ahornblättern das Gelb und Rot des Herbstes noch erkennbar, ersteres als Ocker, letzteres in einem an sattes Kalbsleder erinnerndes Braun, überhaupt sind die Brauntöne vorherrschend: Umbra, Kastanie, Senf, nur die grüngefallenen Blätter haben die Farbe von schattigem Efeu. Ein paar hundert Schritte weiter, unterdessen vermag die Sonne auf den Boden zu scheinen, liegt unter der alles überziehenden Reifschicht das Immergrün von Waldkräutern und einzelnen Grashalmen. Was noch im Schatten liegt, sieht aus wie frisch aus dem Tiefkühler, das andere genauso starr vor Kälte, und doch reichen die wenigen Sonnenstrahlen aus, das Grün aus der Winterblässe zu beleben und frisch leuchten zu lassen. – Wie die Menschen, die mir entgegenkommen.

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lyrenwegblatter
 


Die Feuerstelle ist aufgeräumt, den Üetliberg im Rücken wissend, wandert der Blick über den nackten Wald und das weite grüne Feld vor mir, auf dem sich mit dem Vormarsch der Sonne der Bergschatten und der Raureif im Gleichschritt zurückziehen, wie feine Adern erkennt man die einzelnen Furchen im Boden, die Spazierwege scheinen wie von Künstlerhand ins Land gezogene Linien zu sein, der rötliche Farbkontrast zum Grün des Feldes ist im exakten Mass aufgetragen, wie schwarze Striche erscheinen da und dort vereinzelte Spaziergänger, immer zu zweit, nur einer ist alleine, er fotografiert mit dem Teleobjektiv die Raben und Möwen. Vor meinem geistigen Auge wandere ich auf den Spazierwegen der Baumgruppe mit nacktem graubraunem Holz und dunkelgrünen Tannen entgegen, die im Zentrum des Bildes steht, dahinter die weiss im Licht leuchtenden Hochhäuser von Schlieren und Dietikon. Darüber am Hang, hinter erneutem Wald, Bergdietikon, eigenhändig von Napoleon Bonaparte mit einem Federstrich dem Aargau zugeschlagen. Der Horizontlinie nachfolgend der bewaldete Heitersberg. Die Farbe des Waldes, mehr bläulich denn bräunlichgrau, korrespondiert mit dem graublauen Aargauer Himmel mit rotvioletten Wolken, eilends dahingemalte Pinselstriche, die das Ende des Föhnfensters signalisieren. Darunter leuchtend, angestrahlt vom gelblichen Zentralgestirn, die Hochhäuser von Spreitenbach, worin sich das Sonnenlicht reflektierend spiegelt. Der Rest der Landschaft wird von Wald beherrscht, Wald entlang der unsichtbar durch ihr Tal fliessenden Limmat, die Tannen wirken als satte dunkelgrüne Kontrastpunkte zum kahlen braunen und grauen Gehölz der Laubbäume. Wald auch entlang des Altbergs, dahinter erkennt man die Lägern und die Ausläufer des nahen Juras.

Der Blick das Limmattal hinab ist bezaubernd, wie auch jener talaufwärts. Der alte Reitplatz in Schlieren befindet sich auf einer Terasse, die abgeschlossen wird von einem Bauernhof. Wenn die Erinnerung nicht täuscht, ist dort noch immer eine Reitschule. Das prächtige Bauernhaus mit Silo und Stall beherrscht die Szenerie. Es ist das letzte, was ich von meiner Stube aus sehe, wenn ich in Richtung Limmattal blicke. Nun schaue ich in der Gegenrichtung nach Höngg. Wie natürlich gewachsen fügen sich die Häuser in die Landschaft ein, weisse, grüne, orange und graue Vierecke, über ihnen auf der Höhe des Käferbergs beginnt der Wald, der wie ein Hahnenkamm der pulsierenden Metropole ein unverwechselbares Charaktermerkmal verleiht. Darüber der blaue Himmel mit weissen Schönwetterwolken. Da ich von der Stube aus den Bauernhof sehe, müsste ich vice versa auch mein Haus entdecken, was mit Hilfe des Fernglas auch gelingt. Weisses Haus mit graubraunen Dachziegeln und schwarzen Fenstern. Ich geniesse den Wechsel von der gewohnten Höngger Aussicht zur Ansicht. Ein Wechsel der Blickrichtung, befruchtend und bestätigend zugleich. –

Nun selber unterweges als schwarzer Strich in der malerischen Landschaft, erblicke ich einen kleinen Weiher in einer Wiese. Grau und kalt ist er, vom alten Reitplatz aus hatte er die Häuser hinter sich gespiegelt, nun liegt er einfach so in der Wiese. Diese wiegt sich sanft im Westwind, der Raureif ist geschmolzen, die Lichtreflexe des Taus verwandeln die Wiese in ein sanft bewegtes, funkelndes grünes Meer.

Eine Stunde später habe ich die Treppe nach Schlieren überwunden, die Eisenbahn unter- und die Stadt auf direktestem Weg durchquert, durch die Schrebergärten bin ich ans Ufer der gemächlich fliessenden, anthrazit farbenen Limmat gelangt. Erste Wolken haben die Sonne schon einmal kurz verdeckt, die blauviolette Wolkenwand hat ihre Lieblichkeit verloren, nun stossen vom Aargau her kommend schwere schwarzgraue Wolken ins Limmattal vor. Richtung Zürich blickend ist noch immer der blaue Himmel, auch wenn sich die Anzahl Schönwetterwolken vervielfacht hat. Ein paar Momente halte ich inne und beobachte einen Graureiher, der stoisch neben einem Abwasserrohr steht und sich die Sonne auf sein Gefieder scheinen lässt. Im Hintergrund rauscht die Autobahn. Über eine Brücke quere ich die Limmat und gelange via Unterführung unter der Autobahn hindurch nach Engstringen. Das Licht am anderen Ende des Tunnels übt seine immer währende Faszination aus, doch heute scheint es besonders zu schillern. Trete wieder ins Freie und bin in einer anderen Welt: links und rechts zwei- und dreigeschossige Häuser, die Natur liegt im Rücken hinter dem steinernen Band der Autobahn und dem dunklen Loch der Unterführung, die Tristesse des Vorortes schlägt einem mit aller Macht entgegen. Und die Sonne? Verschluckt von den noch hellgrauen Rändern der dunklen Aargauer Wolkenwand. Ich halte einen Moment inne: Als ich die Unterführung betrat, war es ein sonniger Sonntag, sechs unterquerte Spuren später ist es ein düsterer grauer Tag. – Was scheidet die Autobahn Zürich - Bern neben dem Wetter sonst noch?

Die Meteorologen scheinen mit einem halben Tag Verspätung doch noch Recht zu erhalten, die optischen Preziosen des Tages liegen hinter mir, Zeit, sich auf dem restlichen Rückweg Gedanken über neue Genüsse zu machen. Anderthalb Stunden später dampfen Spaghetti Bolognese im Teller, der Blick aus dem Stubenfenster umfasst noch immer das gesamte Alpenpanorama vom Glärnisch bis zur Grossen Windgälle, doch schneeweiss ist bloss noch Erinnerung, die grauen Unwetterwolken prallen auf ein zorniggelbes Leuchten über den galligen Schneebergen.

Weitere anderthalb Stunden später erinnert nichts mehr an den prächtigen Wintertag, tieffhängende Wolken haben die Stadt verdeckt, der Üetliberg ist scheinbar vom Nebel verschluckt. Der Wind pfeift über die Dächer und vermischt die grauen Nebelschwaden mit dem grauen Rauch der Kamine, Schnee fällt in Leintüchern und verläuft in klaren nassen Strähnen dem Fenster entlang.

 

 

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