Spaziergang durch das Niederdorf
23. Juni 2009
 


Doron und ich gehen über die Chorgasse zum Neumarkt, beim gleichnamigen Theater folgen wir der Synagogengasse, die über dem zugemauerten Wolfbach verläuft und an den Ort der historischen Synagoge führt. 1363 wurde sie zum ersten Mal als Judenschuol erwähnt, hier fand 2002 die Stadtarchäologie von späteren Verputzschichten verdeckt spätmittelalterliche Fresken: Profane Fragmente aus dem 14. Jahrhundert in Form von roten und schwarzen Blattranken als Deckenfries und Fenstereinfassung. Das Besondere: die Malerei schmückte einen ebenerdigen Raum anstelle des vornehmen Obergeschoss. In der Froschaugasse angekommen wenden wir uns wieder Richtung Neumarkt, um die Gedenktafel über die Geschichte der Juden, die an der Froschau- und Brunngasse gelebt haben, zu lesen: 1343 schuf ein Rabbi Moses den Zürcher Semak, einen bis heute verwendeten Gesetzeskommentar. Durch ein Pogrom fand 1349 die Blütezeit der jüdischen Gemeinde Zürichs ein Ende. 1436 wurden die Juden mit einem Niederlassungsverbot belegt, das erst durch das Emanzipationsgesetz von 1862 wieder aufgehoben wurde.

Während Doron und ich noch über die jüdische Gemeinde sprechen, nähern sich durch die Froschaugasse Nationalrat Mario Fehr und seine Partnerin Anna Maria Riedi. Mario winkt schon von weitem, weshalb wir warten und ich meine Bekannten miteiander bekannt mache. Schnell kommt unser Gespräch auf das Judenviertel, Anna Maria und Mario lesen mit grossem Interesse die Tafel. «Das habe ich nicht gewusst!», stellt Mario fest und erkundigt sich nach dem Standort der Synagoge. Wir gehen die fünfzig Meter zurück, wo die Synagogen- in die Froschaugasse mündet, die nicht weiter auffällt, da sie bereits durch einen Torflügel halb geschlossen ist. Die Gasse, nicht breiter als ein Schwein lang, wie es das mittelalterliche Mindestmass für Zürcher Gassen vorgeschrieben hat; ein ausgewachsenes Schwein musste ohne an einer Hausmauer anzustossen sich in einer Gasse um die eigene Achse drehen können.

Er wäre kürzlich in Berlin gewesen, erzählt Mario, er habe in Prenzlauer Berg die einzige Synagoge Deutschlands besichtigt, welche die Naziherrschaft und den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatte. Nun ist es an Doron und mir, erstaunt zu sein. «Sie ist in einem Kellergeschoss», fährt Mario fort. Der Putz fällt heute von den Wänden.»
«Das… das ist ein Wunder», sagte Doron ergriffen. «Die einzige Synagoge, die das dritte Reich unbeschadet überstanden hat. Und das mitten in Berlin, der Zentrale des Holocaust! Man fragt sich schon, wie so etwas möglich ist!», antwortet Mario.
Schweigend lassen wir das Gespräch über der Synagogengasse entschweben.




 

 

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