Pfannenstiel
6. Februar und 11. Juli 2011


Zu kirchgängerischer Zeit erstrahlt die Altstadt links der Limmat im schönsten Sonnenlicht. Der dunkelblaue Himmel lässt die wirkliche Temperatur erahnen, obwohl die historischen geweisselten Häuser mit ihren kleinen, dunklen Fenstern unter den ersten Frühlingssonnenstrahlen mediterrane Effekte evozieren.

Die Forchbahn fährt in zwanzig Minuten, das Reiseziel ist der Pfannenstiel, den Max Frisch in seinem ersten Tagbuch drei Mal beschreibt: Zuerst mit einer ausserehelichen Beziehung, das andere Mal trifft er auf sein literarisches Vorbild Albin Zollinger, das dritte Mal rastet er in einer Kiesgrube und sieht sich vor seinem geistigen Auge einem Erschiessungskommando gegenüber, das ihn verschont, wenn er seine Freunde verrät und er sich fragt, wie er sich in ebendieser Situation verhalten hätte, wenn Hitlers Truppen in der Schweiz einmarschiert wären.

Pfannenstiel
Pfannenstiel,
kleiner Bruder des Utos über’m See,
nicht mal einen eigenen Turm hast du.

Pfannenstiel,
die Goldküste mit ihren Millionären an deinem Fusse,
gereicht dir bloss zu geringerem Ruhme.

Pfannenstiel,
Zürcher Berg der Dichter,
wer nimmt von dir Notiz?

«Ein Grat von schlichtem Verlauf, welchem sonderliche Überraschungen nicht eigentlich zugetraut werden», schreibt Albin Zollinger 1940 in seinem Roman «Pfannenstiel». Im Lauf des Frühjahrs sollte ich aus der «Neuen Zürcher Zeitung» ein Foto von Thomas und Erika Mann auf dem Pfannenstiel ausschneiden, worauf Erika im Schnee ein paar Schritte voraus geht. Pfannenstiel, in Frischs «Tagebuch 1946–1949» gerne überlesener Schauplatz in einem Stück Weltliteratur, williger Geburtshelfer derselben: der Künstler Gottfried Honegger – in «Montauk» vorkommend, aber nicht namentlich erwähnt – erinnert sich in der «SonntagsZeitung» anlässlich des 100. Geburtstages Frischs im April an die unzähligen gemeinsamen Wanderungen über den Pfannenstiel, während denen ihm Frisch seine neusten Werke erzählte und seine ungeschminkte Meinung darüber erfahren wollte. In Freundschaft – und Reminiszenz an den Pfannenstil? – aber auch als Wiedergutmachung für die Auslassung in «Montauk», widmete ihm Frisch 1982 «Tryptichon», ein Stück über das Leben nach dem Tod. Frisch schätze die Freundschaft zu Honegger, weil dieser, im Gegensatz zu anderen Freunden, kein Intellektueller gewesen wäre. Ob Honeggers Anregungen von den Pfannenstielwanderungen in Frischs Werk eingeflossen waren?

Am Montag hat Stadtpräsidentin Corinne Mauch die Gedenktafel für Max Frisch bei seiner letzten Wohnung beim Bahnhof Stadelhofen eingeweiht. Frisch soll ein rabiater Mieter gewesen sein, der öfter einen Eimer Wasser auf die zu den Zügen eilenden Leute geschüttet hatte, wenn sie ihm zu laut gewesen waren. Seither geht mein Blick prüfend zur Dachterrasse hoch, um sicher zu gehen, dass ich nicht von einem Schwall Wasser getroffen werde…

Mein Vorfrühlingsausflug auf den Pfannenstiel soll die Unterschiede von 65 Jahren feststellen. Der erste Eintrag im Tagebuch lässt sich im Februar nicht wiederlegen, auch wenn die Sonne um elf die blauen Schatten verjagt, beschreibt Frisch den letzten warmen Herbsttag und nicht den ersten Frühlingstag. Die beschriebenen Wespen im Most sind die letzten drei Monate über hoffentlich erfroren. Die herbstlichen Vermicelles auf der Speisekarte in der Hochwacht befremden ebenso wie die Aussicht auf die Hochhäuser von Wetzikon, die wie ergrauende Zähne aus dem grünenden Zürcher Oberland in die Höhe ragen. Auf die Frage, ob die Hochwacht das von Frisch beschriebene Restaurant wäre, muss der Kellner passen. Aber auch die im Tagebuch erwähnten weissen Hühner haben Patina angesetzt, die auf der Wanderung erblickten sind allesamt braun gefiedert.


max frisch wohnhaus stadelhofen 2011
Max Frischs letzte Wohnen am Bahnhof Stadelhofen in Zürich.

 

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abgestempelt, die Max Frisch Briefmarke – 24. Janurar
Kloster Fahr – 1. Januar
Aggloblues – 1. Januar


folgende Einträge:
über Auszeichnungen – 15. Februar
unsägliche Diskussion – 15. Februar
Nachtrag zur unsäglichen Diskussion – 19. Februar


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