Live aus der Schüssel
4. Mai 1977
Zusammengestellt von Beatles-Produzent George Martin aus den Konzertaufnahmen von 1964 und 1965, erschien «Live At The Hollywood Bowl» aus technischen Gründen erst 1977. Sein Sohn Giles mischte 2016 die Neuveröffentlichung zu einem historisch inkorrekten Hörerlebnis ab.
Bewertung: * * * * *

Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, dass die Beatles im Juli 1966, bereits vor dem Höhepunkt ihrer musikalischen Karriere, ihr letztes Konzert gegeben haben. Denn heute verdienen die meisten Musiker nur noch mit Konzerten Geld. Und es war ein Paradox, dass im Katalog der Beatles zwischen 1987 und 2016 ein Livealbum fehlte.

Dass die Beatles ihre Konzerttätigkeit aufgaben, lag in erster Linie an technischen Gründen. Natürlich hatten die Beatles zwischen 1963 und 1966 kaum Urlaub genossen. Natürlich waren sie 1966 im Bible-Belt der USA vom Ku-Klux-Klan an Leib und Leben bedroht worden, nachdem John Lennons Äusserung über das Christentum aus dem Zusammenhang gerissen drei Monate später für Schlagzeilen gesorgt hatte. Und natürlich waren sie im selben Jahr auf den Philippinen beinahe von einem wütenden Mob gelyncht worden, weil sie aufgrund eines Misservständnisses in der Kommunikation einen Staatsempfang mit Diktator Ferdinand Marcos hatten sausen lassen. Vor allem aber wurden ihre Songs seit 1965 immer komplexer und waren damals live nicht reproduzierbar. Die ersten Synthesizer wurden erst gegen Ende der 1960er-Jahre entwickelt. Andererseits konnten sich die Beatles wegen dem hysterischen Kreischen der Fans auf der Bühne gar nicht hören, da damals selbst die stärksten Verstärkeranlagen nicht gegen den Lärmpegel angekommen waren. So erinnert sich Ringo Starr in der «Anthology», dass er keine Ahnung hatte, an welcher Stelle des Songs seine Kollegen waren und er sich aufgrund des Wackelns ihrer Hintern orientiert hatte.

Sieg über die Technik
Ursprünglich hätten im Februar 1964 die Konzerte im Square Garden aufgezeichnet werden sollen, damals hatten die Beatles gerade die Herzen der Amerikaner erobert. Doch die Gewerkschaft AFM verhinderte dies. Im August 1964 nahm George Martin die Konzerte im Hollywood Bowl in LA für ein Livealbum auf, doch die Musik ging im Furor von 17 000 kreischenden Fans unter. Einzig ein 48-sekündiger Auszug aus «Twist And Shout» vom 1964er-Konzert hatte Capitol für die Dokumentation «The Beatles’ Story» verwendet. Weil die damaligen Lautsprecher viel zu schwach waren, konnten sich Beatles auch 1965 auf der Bühne nicht hören und die Aufnahmen genügten erneut nicht den kommerziellen Anforderungen.

beatles mccartney 1964 tickets hollywood bowl
Billette für die Konzerte der Beatles vom 23. August 1964 im Hollywood Bowl in Los Angeles und 15. August 1965 im Shea Stadium in New York. – Bild: Collectors Weekly.


Dass das Projekt Livealbum über ein Jahrzehnt liegen blieb, lag nicht nur an der hohen Kadenz, in der die Beatles ihre Musik einspielten, sondern auch an Produzent George Martin: «Ehrlich gesagt war ich auch nicht in der Stimmung, um ihre Konzerte aufzunehmen», schreibt dieser in den Liner Notes des 1977 erschienenen Originalalbums. «Ich wusste, dass Liveaufnahmen nie die Qualität von Studioaufnahmen erreichen würden», so Martin weiter. «Aber wir dachten, dass wir es irgendwie hinkriegen würden.» Im Gegensatz zum Studio, wo die Beatles seit 1964 mit Vierspurmaschinen von Studer/Revox arbeiten konnten, waren in Los Angeles nur 3-Spur-Aufnahmen möglich. Und da auf der Bühne keine Fold Back Lautsprecher zur Verfügung standen, konnte sich weder die Band hören noch bestand Mitte der 60er-Jahre die Möglichkeit, sie aus dem Fanfuror hinauszumischen. «Selbst ein Jet wäre gegenüber den 17 000 kreischenden, jungen Stimmen im Lärm untergegangen», schreibt George Martin. Bleibt anzumerken, dass vor einem halben Jahrhundert zwar die Jets lauter, aber die Lautsprecher offensichtlich dementsprechend leiser gewesen waren.

mühselige Restaurierung
Dass George Martin schlussendlich zustimmte, die alten Aufnahmn zu überarbeiten, lag weder daran, dass Mitte der 70er-Jahre mit «The Who Live At Leeds», «The Allmann Brothers Live At Filmore East» oder «Rock’n’Roll Animal» von Lou Reed Meilensteine der Rockgeschichte als Livealben veröffentlicht worden waren, noch dass Bhaskar Menon, der damalige Präsident von Capitol Records George Martin um die Produktion eines Livealbums gebeten hatte, sondern dass dieser, als er sich die alten Aufnahmen angehört hatt, von der überschwänglichen Liveenergie der Beatles überwältigt gewesen war.

Zusammen mit seinem langjährigen ToniIngenieur Geoff Emerick, der seit «Revolver» bei den Beatles-Alben mitgewirkt hatte, transferierte George Martin die 3-Spur-Originalaufnahmen auf damals gängige 16 Spuren. Dabei mussten sie mit einem umfunktionierten Staubsauger die Tonbandgeräte kühlen, damit sie sich nicht überhitzten und die Aufnahmen zerstört wurden. Anschliessend entfernten Martin und Emerick so gut es ging alläfllige Nebengeräusche und das obligate Bandrauschen. Das stetige Kreischen aber blieb als Grundrauschen erhalten.

Hiermit unterscheidet sich «Live At The Hollywood Bowl» von Pauls ein halbes Jahr früher veröffentlichten Livealbum «Wings Over America». McCartney hatte Wochen damit verbracht, die Liveaufnahmen seiner neuen Band zu überarbeiten. Gemäss Wings Schlagzeuger Joe English, ging es nicht darum, allfällige Spielfehler der Band auszumerzen, sondern die Publikumsgeräusche hinauszumischen. In den 70er-Jahren hatte das Publikum nicht mehr hysterisch gekreischt, aber ziemlich high und vor allem falsch die Songs mitgesungen.

zu den Songs und den Originalversionen
George Martin verwendete für das Album fast ausschliesslich die Aufnahmen vom 30. August 1965, da er die Aufnahmen vom 29. August für unbrauchbar befand. Im Rahmen der Restauration besserte er unklare Stellen mit Aufnahmen vom 29. August aus. Da für das Album Konzerte aus zwei Jahren verwendet, aber kein Doppelalbum veröffentlicht wurde, mussten einige Songs weggelassen werden. 1964 wurden «Twist And Shout», «You Can’t Do That», «Can’t Buy Me Love», «If I Fell», «I Want To Hold Your Hand» und «A Hard Day’s Night» weg. Von den 65er-Konzerten wurden «I Feel Fine», «Everybody’s Trying To Be My Baby», «Baby’s In Black», «I Wanna Be Your Man» und «I’m Down» weggelassen, dafür aber «Can’t Buy Me Love» und «A Hard Day’s Night» verwendet.

Da Beatles-Konzerte um eine halbe Stunde gedauert haben, entspricht die Laufzeit des Albums einem Konzert. «Baby’s In Black» wurde 1996 als B-Seite der zweiten «Anthology»-Single «Real Love» verwendet. Die Aufnahme von «I Want To Hold Your Hand» verwendeten George und Giles Martin 2006 für den Soundtrack der Cirque du Soleil Show «Love» und das entsprechende Remix-Soundtrack-Album. Entgegen den Linernotes auf dem Album stammen «Ticket To Ride» und «Help!» vom Konzert am 29. August 1965 und «Dizzy Miss Lizzy» ist ein Mix aus beiden 65er-Konzerten.

beatles mccartney 1965 live shea stadium
Paul McCartney, John Lennon und George Harrison (vlnr) am 15. August 1965 im Shea Stadium in New York. Dies war mit 65 000 Zuschauern bis dato das grösste Konzert in der Rockgeschichte. – Foto: thebeatles.com

Das Album zeigt schön, dass die Beatles sich in den frühen 60er-Jahren als Single-Band verstanden. So ist «She’s A Woman» die B-Seite der Single «I Feel Fine» von 1964. Zudem streckten sie ihr Liveprogramm nach wie vor mit Coverversionen wie «Boys», «Twist And Shout», «Long Tall Sall»y oder« Dizzy Miss Lizz»y. Ihre Konzerte waren, wie George Martin in den Linernotes schreibt, nicht nur die Stimme der Beatles, sondern der Ausdruck der jungen Leute der Welt. Bemerkenswert ist, dass er am Ende der Linernotes gegen eine Widervereinigung der Beatles anschreibt, weil es nie mehr dasselbe wie einst sein würde. «Die Jungs haben in ihrer Art alles für die Beatles gegeben und heutzutage haben sie sich zu Individuen entwickelt».

In den USA erschien das Album mit dem Titel «Live At The Hollywood Bowl» in einem Klappcover. Die Tickets waren blau und grün abgedruckt. In Europa wurde es mit den Namen «At The Hollywood Bowl» in einer gewöhnlichen Hülle auf dem Billiglabel von EMI Records, Music For Pleasures MFP, veröffentlicht.


die 2016er-Wiederveröffentlichung
Zur Dokumentation «The Beatles: Eight Days A Week – The Touring Years» von Oscar-Preisträger Ron Howard, die im Herbst 2016 erschien, wurde «Live At The Hollywood Bowl» nun offiziell zum Beatles-Katalog hinzugefügt. George Martins Sohn Giles verwendete ebenfalls die Originalaufnahmen, da es heute technisch möglich ist, jedem Instrument und jedem Geräusch eine eigene, digitale Spur zuzuweisen und neu abzumischen. Giles Martin ergänzte das Originalalbum mit weiteren, aber aus qualitativen Gründen nicht allen Songs der damaligen Konzerte. Das neue Cover zeigt das Foto von Ron Howards Dokumentation.

Auf der Wiederveröffentlichung von «Live At The Hollywood Bowl» wird nun die Geschichte durch eine bessere, virtuelle Realität geklittert: So ist die überwältigende Live-Energie der Beatles nun mit in einer Klarheit und Qualität zu erleben, wie sie sich selber und das Publikum – hätte es denn bloss geschwiegen – aus technischen Gründen nie haben hören können und ist trotz allem Für und Wider hörenswert.

Rezeption und Statistik
Das Originalalbum erreichte 1977 in Japan und England erreichte «Live At The Hollywood Bowl» die Chartspitze, in den USA Rang 2. Weitere Topten Platzierungen kamen in Österreich (Rang 3), Norwegen (Rang 4) und Kanada (Platz 8) hinzu. In der BRD klassierte sich «Live At The Hollywood Bowl» auf dem 10. Platz, in Australien auf Rang 12, in Schweden 17 und Neu Seeland auf Rang 18. In den USA und Kanada gab es eine Platinschallplatte, in Frankreich und England Gold.

1965 beatles mccartney live shea stadium paul wavingPaul winkt am 21. August 1965 dem Publikum im New Yorker Shea Stadium zu. Links von ihm George Harrison, rechts unscharf, John Lennon.

 


77 mccartney beatles cover beatles hollywood bowl us version
Tracklist
Originalalbum 1977

Twist And Shout *
She's A Woman *
Dizzy Miss Lizzy *
Ticket To Ride *
Can't Buy Me Love *
Things We Said Today
Roll Over Beethoven
Boys
A Hard Day's Night *
Help! *
All My Loving
She Loves You
Long Tall Sally


alle Songs wurden am am 23. August 1964 aufge-nommen, ausser die mit einem
* markierten, die vom 30. August 1965 stammen.

 

Das Cover der auf dem Billig-Label Music For Pleasure MFP von EMI Records in Europa vertriebene Version.

 

Wiederveröffentlichung
2016

Tracklist
Twist And Shout
She’s A Woman
Dizzy Miss Lizzy
Ticket To Ride
Can’t Buy Me Love
Things We Said Today
Roll Over Beethoven
Boys
A Hard Day’s Night
Help!
All My Loving
She Loves You
Long Tall Sally
You Can’t Do That * †
I Want To Hold Your Hand *
Everybody’s Trying To Be My Baby* †
Baby’s In Black *

* Bonus Tracks
* † Erstveröffentlichung

 

Konzertplakate 1964/65

Plakat für das Konzert der Beatles vom 23. August 1964 im Hollywood Bowl in Los Angeles (oben) und jenes vom 29. August 1965 (unten).



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