Culur oder Schlechtwettertag im Engadin
3. August 2009


Schon beim Frühstück entschuldigt sich Werner, jedoch nicht für den sündhaft dünnen Kaffee der Pension, sondern für den Regen.
«Wir fahren mit dem Auto in Richtung Maloja, oft wird es in Richtung Bergell besser, und sonst versuchen wir unser Glück zum Berninapass hin», beschreibt Werner das Programm. Wir fahren im Regen los, gegen Maloja hin klart es tatsächlich auf, doch an ein Weiterfahren in Richtung Bergell ist nicht zu denken, die Wolken hängen tief im Tal drin. Enttäuscht blicken wir darauf hinab. Werner möchte mir etwas zeigen, und so fahren wir zum Weiler Salecina und parkieren die silberne Ana bei der Villa Baldini, bei der sich das 1972 eingeweihte Rückhaltebecken Orden befindet. Die Staumauer ist an ihrer höchsten Stelle 42 Meter hoch und hat eine Kronenlänge von 171 Metern. Spektaulär sieht anders aus, zumal man von der Mauer in ein matschiges Becken mit einem kläglichen Bach darin anstatt auf einen See blickt. Dieses Rinnsal verursachte jedoch zwischen 1659 und 1956 21 Hochwasserkatastrohen im Bergell. Obwoh der Kanton Graubünden die Mauer besitzt, sorgt das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich für deren Wartung.

1997 wurde das Projekt Culur von Gottfried Honegger installiert, seither zieren neun in den Farben des Regenbogens bemalte Metallsäulen die Mauerkrone. Sechshundert Meter von der Mauer entfernt steht im Brennpunkt eine zehnte, regenbogenfarbige Säule. Auf jeder der neun Säulen auf der Mauer hat es eine in Italienisch, Rätoromanisch und Deutsch formulierte Frage. Die erste Frage stammt von Gottfied Honegger, die anderen von Gästen aus des Ferienzentrums Salecina.

Werner und ich schreiten über die Mauer und beantworten uns die neun Fragen:

1. Hat Kunst eine soziale Aufgabe?
2. Müssen Menschen Spuren hinterlassen?
3. Was gehört den Menschen? Was nur sich selbst?
4. Wo ist eine Grenze?
5. Verändert uns die Zeit oder verändern uns Augenblicke?
6. Haben wir heute zuviel oder zuwenig?
7. Was war, was wir wissen wollten, bevor wir uns zerstritten?
8. Wie viele Muttersprachen sprechen unsere Kinder?
9. Wo beginnt der Rand der Gesellschaft?

Fahren nach St. Moritz zurück. Mit der Signalbahn gleiten wir zur Station hoch und spazieren einige Schritte zu einem schönen Aussichtspunkt. Viel lässt sich wegen den tiefhängenden Wolken nicht erkennen. Werner zeigt mir die Laudinella von oben, wo er an einem Seminar teilgenommen und Chorleiter Sourlier kennengelernt hat, bei dessen Aufführung der «Johannes Passion» von Johann Sebastian Bach wir uns drei oder vier Jahre später kennengelernt und Sänger- und Wanderfreundschaft geschlossen haben.



Nach einem Picknick auf dem Signal fahren wir nach St. Moritz zurück und hängen einen Ortsbummel an. Mich begeistert die indischrote Fassade von Hanselmann’s Konditorei und Café mit ihren beigen, barocken Sgrafitti. Wir trinken jedoch andernorts einen Kaffee – der diesen Namen auch verdient – und nach einem weiteren Zwischenhalt an einem Kiosk, wo ich den «Tages-Anzeiger» und wegen dem Kratzen im Hals ein Pack Ricola mit Bergminze kaufe, danach fahren wir weiter in Richtung Berninapass. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, die Wolken hängen auch hier tief, einzig oberhalb der Bahnstation Morteratsch hat man einen Blick auf den Berninagletscher, danach verschlucken die Wolken Strasse, Umgebung, Panorama und Himmel und genügen sich ihrer selbst in ihrer nasskalten Existenz. Bei der Seilbahnstation Diavolezza-Lagalp wendet Werner enttäuscht. Auf der Rückfahrt erzähle ich von unserer Familienwanderung von Alp Grüm nach Poschiavo und von den beiden Projektwochen während des Lehrerseminars, die ich in Brusio und in Grosio im nahen Veltlin verbracht habe.

In Samedan fährt Werner ins Dorf und schlägt mir einen Überraschungsbesuch bei einer Bekannten von ihm vor. Es handelt sich um eine über achtzigjährige Dame. Bei Kaffee und Kuchen verbringen wir die nächsten zwei Stunden. Werner und ich müssen unser ganzes diplomatisches Geschick anwenden, um nicht noch je ein drittes Stück Kuchen essen zu müssen. Nachdem wir uns verabschiedet haben, spazieren wir zur Kirche San Peter und blicken von dort über die Wiese zum darunterliegenden Parkplatz hinab. Danach kehren wir in unsere Pension zurück.

samedan august 2009


gottfried honegger culur 2009

 

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