Piz Vadret
4. August 2009


Als wir losfahren hat es aufgeklart, am blauen Himmel hängen nur wenige Schönwetterwolken. Das Morgenlicht taucht die noch nasse Landschaft in ein silbernes Licht. Und so wählt Werner nach zehn Minuten Fahrt durch das traumhafte Oberengadin beim Punt Muragl für die silberne Ana einen schattigen Parkplatz. Wir lösen unser Billett und besteigen den roten Wagen der Standseilbahn. Während der achtminütigen Fahrt erzähle ich Werner, dass ich erst einmal, als kleiner Junge, auf Muotas Muragl war, Erinnerungen daran habe ich eigentlich keine, ich sehe ein Bild aus der Seilbahn und aus dem Restaurant vor mir. Dieses suchen wir auch zunächst auf. Auch Werner hat nach dem dünnen Morgenkaffee nochmals eine Tasse nötig. Ich sowieso. Endlich eine gute Tasse Kaffee, die wir auf der Terrasse zusammen mit dem Blick über das wunderbare Panorama geniessen und etwas Höhensonne tanken.

Die Malojaschlange windet sich über den Seen den Hängen des Piz Lunghin und Piz Lagrev entlang. Und auch das Berninatal hinauf zieht es zu. Der König der Bündneralpen hat sich hinter seinen grauen Wolkenvorhang zurückgezogen. Obwohl ich weiss, dass Werner etwas anderes im Sinn hat, versuche ich es angesichts des Wetters, ihn vom einem Programmwechsel zu überzeugen. Ich habe keine Lust, in die Höhe zu kraxeln, wenn es einen Panoramaweg nach Pontresina gibt. Aufstiege ins gebirgige Nirgendwo habe ich mit Werner schon einige erlebt. Die waren alle anstrengend und oft beschwerlich, aber für die jeweilige Aussicht auch ihre Mühe wert, wie vor zwei Jahren, als wir den Weg zu den Jöriseen verlasssen und stattdessen irgendwann fernab des Weges die Aussicht über das Flüelagebiet genossen haben. Und so lasse ich angesichts der sich nähernden Wolken Werners Argument, dass er das letzte Mal, als er mit seinen Schwestern den Panoramaweg genommen hatte, Hanna beinahe einen Sonnenstich gekriegt hätte, nicht gelten.

Aber ich schicke mich in mein Schicksal. Wir marschieren los, es ist das gewohnte Bild, Werner, das doppelte an Jahren, geht zehn, fünfzehn Meter voraus. Projiziere ich meine Wanderfähigkeiten auf den Radsport, so bin ein Zeitfahrer, der gut rollen kann, allenfalls auch noch ein Sprinter, wenn auch nicht der Endschnellste. Aber kein Bergfahrer. Zumindest nicht bergauf, denn bergab werde ich dann wieder zehn bis fünfzehn Meter vor Werner hergehen und munter wie eine Gämse über Stock zu Stein springen. Wenn mich der Radsport etwas gelehrt hat, dann das Klettern. Das Bild vom Giro d’Italia 1998 vor Augen, als Marco Pantani mit seinen Tempowechseln während der 16. Etappe mit seinen steten Tempowechseln alle Favoriten demoralisierte, ausser Alex Zülle in der Maglia Rosa, der stur sein Tempo gefahren war und zusammen Pantani die Passhöhe erreicht hatte. Dass Zülle dennoch am folgenden Tag das Leadertrikot an Pantani abgeben musste, vergesse ich jeweils lieber. Und so gehe ich weiter, wenn Werner auf mich wartet, grüsse ich ihn lachend und frage, ob er noch weitergehen mag, weil ich meinen Rhythmus nicht verlieren möchte.

muotas muragl august 2009 panorama
Blick von Muotas Muragl am 4. August 2009, 10.24 h.

Wir erreichen den Lej Muragl, mittlerweile haben uns die Wolken erreicht und feiner Nieselregen setzt ein. In Mulden und geschützten Lagen liegen Schneeflecken. Wir machen eine kurze Pause, Werner zieht sein Regengerust an. Danach marschieren wir in gewohnter Formation weiter. Nach kurzer Zeit erreichen wir die Fuorcla Muragl. Wir sind auf 2891 M.ü.M, seit wir aufgebrochen sind haben wir 450 Höhenmeter zurückgelegt.

Werner konsultiert die Karte blickt den Hang neben uns hoch, aus den Wolkenbäuchen scheinen Felsen zu kommen. Werner versorgt die Karte und zeigt den Hang hoch.
«Lass uns noch bis zu den Felsen hochgehen», sagt er. Da wir bereits im Regen bis hierher gekommen sind, gibt es keinen Grund mehr, nicht noch zu den Felsen hochzukraxeln. Und so folge ich Werner über Geröll und einzelne Scheefelder hoch. Als ich ihn bei den Felsen erreiche, hat er bereits seinen Rucksack abgestellt und seine Kamera hervorgeholt. Er
gibt mir seine Kamera. Ich nehme sie und murmle, dass wir diesen historischen Moment doch gebührend würdigen möchten. Ich nehme meine Kamera aus der Jackentasche und zeige sie Werner. Er strahlt mich an und sucht sich danach eine gute Position. Längst ist mein journalistischer Instinkt geweckt, so dass wir nun fast ein semiprofessionelles Fotoshooting veranstalten.

Nachdem wir etwas Wasser getrunken haben, machen wir uns auf den Rückweg. Wie erwartet ist zwischen Werner und mir dieselbe Lücke, nur dass ich nun voranschreite. Bergab ist kein Problem. Ich studiere die Lichtwechsel und die verschiedenen Grauschattierungen. Beim Lej Muragl warte ich ein erstes Mal auf Werner. Die gelben und blauen Blumen vor dem stahlblauen Bergsee, dessen Uferpartien rötlich sind, faszinieren mein Fotografenauge. Unterdessen hat sich der Wolkenspiegel gehoben. Wir wandern weiterhin im Regen, aber nicht mehr im Nebel sondern unter den Wolken. Breitbrüstig und majesätisch weiss hebt sich der Piz Bernina von seinem grauschwarzen Umfeld ab. Was haben wir dem Bündner Alpenkönig angetan, dass er sich zum zweiten Mal übel wettergelaunt präsentiert?

Zurück in Muotas Muragl wärmen wir uns nochmals mit einem Kaffee. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich es mir mit meiner akutellen Budgetsituation leisten kann, kaufe ich ein Bestimmungsbuch von Alpenpflanzen. Die Standseilbahn bringt uns wieder ins Tal hinab. Bei der silbernen Ana ist der Asphalt schon wieder mehrheitlich trocken. Auf der Heimfahrt muss Werner in La Punt tanken. Er bittet mich, für morgen Abend, zurück in Davos, eine Flasche Wein zu kaufen. Die Auswahl ist nicht gross, aber ordentlich. Ich wähle eine Flasche Bardolino aus. Auf dem Etikett hat es eine Figur, aber keinen Barden. Ich zeige Werner die Flasche und sage: «Zur Feier unserer Freundschaft, alter Sängerknabe, habe ich einen Bardolino gewählt», sage ich zu ihm.

muotas muragl august 2009
Blick von Muotas Muragl am 4. August 2009, viereinhalb Stunden später, um 15.04 h.


laj da muragl 2009

 

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