Fahrt zum Wolfgangpass mit Thomas Mann
21. Juni 2014


Unterwegs nach Davos, eigentlich schreibe ich noch gerne im Zug, heute aber wollen keine Worte fliessen. Einzig das Gefühl etwas Schreiben zu wollen ist da. Vor Jahresfrist habe ich den Anfang von Thomas Manns «Zauberberg» gelesen. Mit der Ortskenntnis, nicht nur in Davos, aber auch von der Anreise, habe ich die Reisebeschreibung von Hans Castorp mit besonderem Interesse gelesen, und stelle einen Vergleich von 1907, dem Zeitpunkt von Castorps Reise, und heute an:

«Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, einer kleine Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint. Denn Station Landquart liegt vergleichsweise noch in mässiger Höhe; jetzt aber geht es auf wilder, drangvoller Felsenstrasse allen Ernstes ins Hochgebirge».

Von Hamburg nach Davos führte die Reise über den Bodensee und nicht das Rheintal hoch und in der Schweiz über Basel und Zürich. Noch immer wechselt man in Landquart auf die RhB. Wie Thomas Mann schreibt, habe auch ich bei der An- oder Heimreise von Schiers den Bahnhof Landquart als windig erlebt. Die wenig reizvolle Gegend ist relativ, denn Landquart ist in der malerischen Bündner Herrschaft gelegen, umgeben von Feldern, Rebbergen, dem Vilan und Calanda. Die Ortschaft entstand erst 1858 als Dorfteil von Igis, als am Rhein eine Station der Vereinigten Schweizerbahnen gebaut wurde. Darum herum siedelte sich bis heute Industrie an, seit ein paar Jahren ist direkt neben dem Bahnhof ein Fashon Outlet, ein Hüttendorf für Modeeinkäufe. Seit zwei Jahen besteht die politische Gemeinde Landquart, nach dem Zusammenschluss von Mastrils und Igis.

Hans Castorp sitzt in einem kleinen graugepolsterten Abteil, heute hat auch die RhB keine eigentlichen Abteile mehr, sondern einander gegenüberliegende Zweiersitzbänke, deren Polster bräunlichrot ist. Die Fenster lassen sich ebensowenig nicht mehr öffnen wie dass es sich um Dampflokomotiven handelt. Für die Fahrt von Hamburg nach Davos brauchte Hans Castorp zwei Tage, heute dauert sie zwischen elf und zwölf Stunden..

Schlicht falsch ist die Aussage vom jähen und zähen Aufstieg ab Landquart, der sich auch nicht mit literarischer Freiheit begründen lässt. Die Bahn fährt zunächst nach Malans und durch den Tunnel in der Klus ins Prättigau, aber auch dort noch auf dem Talboden über Schiers hinaus bis nach Küblis, was von der Distanz her ungefähr die Hälfte der Strecke ist. In Küblis beginnt die Fahrt öde zu werden, denn in Bergfahrtrichtung links folgt man bis Klosters nur noch dem steilen Hang, während man auf der rechten Seite an die gegenüberliegen Hänge sieht und der imposante Gotschna sich nähert. Dafür wird die Fahrt von Klosters an umso schöner, etwas was Thomas Mann auch gewürdigt hat:

davos sommer 2008 see
Die Davoser Landschaft mit Davos Dorf, dem See und dem bewaldeten Wolfgangpass, daneben das Seehorn und im HIntergrund die weissen Berge des Rätikons. Gesehen vom Jakobshorn im August 2008.


«Er sah hinaus: der Zug wand sich gebogen auf schmalem Pass; man sah die vorderen Wagen, sah die Maschine, die in ihrer Mühe braune, grüne und schwarze Rauchmassen ausstiess, die verflatterten. Wasser rauschen in der Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblöcken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe sich auf. Sie schlossen sich, neue Engpässte folgten, mit Schneeresten in ihren Schründen und Spalten. Es gab Aufenthalte an armseligen Bahnhofshäuschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verliess, was verwirrend wirkte, da man nicht mehr wusste, wie man fuhr, und sich der Himmelsgegenden nicht länger entsann. Grossartige Fernblicke in die heiligphantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in da man hinan- und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, dass er die Zone der Laubbäume unter sich gelassen habe, auch die der Singvögel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, dass er, angewandelt von einem einem leichten Schwindel und Übelbefinden. Das ging vorüber. Er sah, dass der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Passhöhe überwunden war. Auf ebendieser Talsohle rollte der Zug nun bequemer dahin.»

Steil windet sich die Bahn von Klosters zum Wolfgangpass hoch, am Gotschna entlang durch den Fichtenwald. Doch geografisch nimmt es Thomas Mann nochmals nicht genau, zwischen Klosters und Davos wird gibt es kaum Aufenthalte an Kopfbahnhöfen gegeben haben, die Stationen sind Clavadürli, noch heute eine Hütte am Berg mit Halt auf Verlangen, Davos Laret und Davos Wolfgang, heute ebenfalls ein Halt auf Verlangen. Aber Kopfbahnhöfe waren das kaum. Klosters hingegen war bis zur Eröffnung des Vereinatunnels 1999 ein Kopfbahnhof. Vielleicht waren Küblis und weitere Stationen im Prättigau vor 100 Jahren noch Kopfbahnhöfe, das kann ich mir vorstellen. Was hingegen stimmt ist die Abwechslung vom Blick über Klosters ins Rätikon und in den Fichtenwald am Gotschna. Ob es keine Laubbäume mehr hat, wage ich zu bezweifeln, in Davos gibt es Laubbäume. Und ob man vor hundert Jahren Vögel singen hörte, wenn man im Zug sass, kommt mir unwahrscheinlich vor.

«Ein See erschien in landschaftlicher Ferne, seine Flut war grau, und schwarz stiegen Fichtenwälder neben seinen Ufern an den umgebenden Höhen hinan, wurden dünn weiter oben, verloren sich und liessen neblig-kahles Gestein zurück. Man hielt an einer kleinen Station, es war Davos Dorf.»

Ein erhebender Moment ist nach der Passhöhe, wenn ein erstes Mal der Davosersee in den Blick kommt. Hier stellt sich mir jeweils ein Gefühl der Freihet und des Ankommens ein. Nicht nur, weil die Enge des Prättigaus hinter einem liegt und die Davoser Landschaft am ihrem oberen Ende breit ist und den weiten Blick das Landwassertal hinab freigibt, sondern weil auch immer das Ziel naht. Die Bahn fährt ein letztes Mal am Seehorn entlang durch Fichtenwald, oberhalb des Sees. Hier quietschen jeweils die Bremsen und die Züge schnaufen, obwohl sie elektrifiziert sind. Schmunzeln macht die Bemerkung, dass auf ebendieser Talsohle der Zung nun bequemer dahinrolle, dies tut er dieses bestimmt, auf den neuen Geleisen. Thomas Mann wird kaum geflunkert haben bei der Beschreibung von Davos Dorf, das eine kleine Station war, eben in einem Dorf. Heute reicht die Besiedelung bis an den See, der Bahnhof ist mit drei Geleisen wohl noch immer nicht viel grösser als damals.

davosersee 2014
Der Davosersee und die Sicht das Landwasertal hinab.



 

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