zum schreiben eines Journal Litteraire: Clinton vs Frisch
13. November 2014


Beim Bahnhofreisebüro Wipkingen kann man gelesene Bücher gegen andere tauschen. Diese Tauschbörse ist eine Initiative des Quartiervereines. Stelle Frank Schätzings «Schwarm» hinein und nehme Bill Clintons Autobiographie.

Habe über die Jahre, wenn das Gespräch aufs Schreiben kam, Frischs Feststellung, dass ein Mensch keine Geschichte habe, sondern zwei oder Erfahrungen, wenn’s hochkomme Erlebnismuster, eingebracht. Niemand mochte Frisch zustimmen, von Erschrecken bis zur Aussage «interessanter Gedanke» reicht das Spektrum der Antworten. Bleibe mit meiner konsequenten Verneinung der Aussage aber so alleine wie Frisch. Es ist nicht der Teil mit den Erlebnismustern, da waren alle einig mit mir. Zustimmung erhält Frisch für den Teil, dass jeder Mensch sich früher oder später eine Geschichte erfindet, die er für sein Leben hält. Für sich selbst stimmt diese Aussage natürlich nicht. Aber man kennt jemand, der Vater, die Schwiegermutter oder in vielen Fällen ein gemeinsamer Bekannter, auf den die Gantenbein’sche Feststellung zutrifft. Und dann meistens: «Ich bin gespannt auf dein Tagebuch und ob es dir gelingt, Frisch zu widerlegen.»

«Ich liebte die Geschichten aus seinem Leben, vor allem die über seine Hunde, und lernte viel aus dem, was mir Buddy, meine Tanten und meine Grosseltern erzählten. (…) Doch vor allem lernte ich, dass jeder Mensch eine Geschichte hat – eine Geschichte von Träumen und Albträumen, von Hoffungen und Enttäuschungen, von Liebe und Verlust, Mut und Furcht, Opferbereitschaft und Selbstsucht», schreibt Bill Clinton im zweiten Kapitel seiner Autobiografie über seinen Onkel Buddy. Thank you, Mister President. Endlich jemand, der mit mir einig ist, dass jeder Mensch eine Geschichte hat und sich nicht bloss sein Leben ausdenkt. Der Diskussion zwischen Max Frisch und Bill Clinton zu diesem Thema hätte ich gerne beigewohnt.

Und schon sagt der kleine Mann im Ohr: «ausgerechnet Bill Clinton» und flüstert mir einige Zitate Frischs über das Schreiben, vor allem jenes aus dem «Tagbuch 1966–1971: «Unterschied zwischen dem erzählerischen ICH und dem direkten ICH des Tagebuchs: das letztere ist weniger nachzuvollziehen, gerade weil es zu vieles verschweigt (…) Was an einem öffentlichen Tagebuch fragwürdig bleibt: die Aussparung von Namen und Personalien aus Gründen von Takt.» Dies gilt ebenso für Autobiografien.

Da man aber nicht kommunizieren kann, ohne etwas über sich selbst zu verraten, sprechen Fachleute von der Ich-Botschaft. Clinton schreibt weiter: «Mein Leben lang habe ich mich für die Geschichten anderer Menschen interessiert.» Dies ist seine Ich-Botschaft. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheint das Gantenbein’sche Monster als eine einzige Ich-Aussage von Frisch: «Zwei oder drei Erfahrungen, wenn’s hochkommt, das ist’s was einer hat, wenn er von sich erzählt, überhaupt wenn er erzählt: Erlebnismuster – aber keine Geschichte. (…) Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» Man sagt, dass Bill Clinton die Leute für sich einnehme, dass er empathisch ist, dass er ihnen zuhört. Er schreibt: «Ich wollte sie (die Geschichten anderer Leute) kennen lernen, verstehen und nachempfinden. Jeder Mensch sollte die Chance haben, gute, bessere Geschichten zu erleben.»

Man sagt auch, dass Max Frisch in seinem Werk im Grunde bloss eine literarische Nabelschau betrieben habe und andauernd über sich selbst geschrieben habe. Auch wenn er in «Montauk» zu glauben meint: «Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten.» Wahrscheinlich tue ich gut daran, Clintons Autobiografie mit der Brille Frischs zu lesen und Frisch mit der Brille Clintons.

Meistens antworte ich in der Diskussion über Frischs Aussgae: «Auch ich bin gespannt auf mein Tagebuch.» Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Den Zwischenstand erfährt man in diesem Blog.

 

Links zu verwandten Blogbeiträgen:
über das Schreiben eines literarischen Tagebuchs – 22. Januar 2008
persönliche Geschichte – 18. Mai 2008


bill clinton mein leben

 

frühere Beiträge:
Jahreszeitengrenze auf dem Eseltritt – 8. November
Schriftstellerleben – 29. Oktober
Erinnerungen an René Burri – 20. Oktober

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Narrativ – 21. November
Noxius – 19. Dezember
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