Zürich, Letzigrundstadion
11. September 2013


Die Mauer ist bereits teilweise errichtet und verdeckt die Südkurve des Letzigrundstadions. Mit einer Viertestunde Verspätung, als es bereits ordentlich feucht und dunkel ist, gehen die Lichter auf der Bühne an. In deren Mitte hängt ein schwarzer Ledermantel, an dessen linken Arm eine rote Armbinde worin sich in weissem Kreis zwei Hammer kreuzen, angebracht ist. Mit der darüber gehängten Ledermütze erinnert der Mantel an das ausgezogene Kostüm von Darth Vader. Eine Tonbandstimme erlaubt das Fotografieren ohne Bitzlicht, dann halten zwei schwarzgekleidete Soldaten eine wurstförmig jämmerliche, weisse Puppe ins Publikum, während zu Trompetenklängen über Lautsprecher das Urteil verkündet wird und «Heil Spartacus-Rufe!» erklingen.

Die ersten Gitarrenakkorde erklingen ohrenbetäubend laut. Gleichzeitig wird Feuerwerk gezündet, nach dem ersten Schreck erkennt man, dass nun von jeder Bühnenseite in Formation Fahnenträger auf die Bühne marschieren. Auch oben an der Mauer posieren sie mit der Fahne. Hardrock ersetzt die Märsche. Die laute, schwere Musik, die Lightshow, das Feuerwerk, die paradierende Soldateska und die begeisterte Menge im Stadionrund, man ist mitgerissen, Hühnerhaut, eiskalt läuft es einem den Rücken hinab. Faschismus ist geil.

Im Lichtkegel eines Verfolgers sprintet er auf die Bühne. Gut sieht er aus, Roger Waters, eben erst 70 geworden. Das gewellte weisse Haar zurückgeliert, eine grosse schwarze Sonnenbrille, weisser, gepflegter Bart. Er singt die ersten Worte, kreuzt seine Hände über dem Kopf. Automatisch kreuzt man die Arme über dem Kopf und grüsst mit den Hunderten mit dem Ritual vertrauten zurück und hebt sich vom Pöbel im Stadon ab. Ihm, dem Heilsbringer will gehuldigt werden.

Der Sourroundsound lullt einem ein. Kommunismus ist sexy.

Die Gitarren werden härter. Diese Ästhetik, brachiale Säulen, Ideen des Reichs werden auf die Mauer projizert, das Rom der Cäsaren, das Berlin der Nazis, das Moskau der Kommunisten, das verwundete Amerika nach dem 11. September, die Menge jubelt, die Musik spielt, die Scheinwerfer evozieren Tageslicht, im Septemberregen stehend wird einem warm ums Herz. Die Fahnenträger marschieren in Reih und Glied ab der Bühne, das Feuerwerk beginnt von Neuem. Es ist jedem Anwesenden klar, nur ein totalitäres System bringt so etwas ästetisch perfektes zu Stande.

Die Gitarren beginnen immer mehr nach Stuka zu klingen, vom Stadiondach her fliegt eine Messerschmidt-Attrappe. Gebannt schaut man in die Luft, die Gitarren klingen unheilverheissend, dann kracht das Flugzeug in die Mauer. So etwas könne man an einem 11. September nicht aufführen, hatte «20 Minuten online» im Vorfeld des Konzertes geschrieben. Und ob das geht, niemand reagiert, man ist trunken von den Eindrücken, grölt begeistert dem Feuerball zu, der drei oder vier Steine aus der Mauer gehauen hat. Wäre die Show Realität, der 20-Minuten-Journalist hätte den Abend dieses Tages nicht mehr erlebt. Es lebe die Diktatur, die die unerwünschten kritischen Elemente (mund-)tot macht.

Nach dem Feuerball folgt ein durch Mark und Bein gehendes Geschrei eines Säuglings. Auch wenn die meisten der 30 000 Tausend Besucher die Rockoper kennt, schaut man sich unter dem Kindergeschrei erstaunt an. Man kennt das Werk, man kennt den Autor, Roger Waters hat den Verlust seines Vaters im Krieg nie überwunden. Seine zerbrechliche Stimme füllt das Stadion. Die ruhigere Musik lässt einem durchatmen, man schaut die übergrossen Projektionen auf der Mauer an und ist erstaunt, dass man der faschistoiden Ästhetik wider bessern Wissens erlegen ist.

Und schon beginnen die Gitarrren den Rhythmus von «Anther Brick In The Wall» zu spielen. Da ist sie zurück, die Rockmarschmusik, unheilsschwanger peitscht sie ihren Rhythmus voran. Die Scheinwerfer erlöschen, von der Mauer strahlt ein Verfolger über die Zuschauer zum Klang eines Helikopters. «Hey you!», schreit Roger Waters, «stand still, buddy!» und zeigt auf einen Zuschauer, auf den der Scheinwerfer gerichtet ist. Mittendrin und doch abseits stehend, nur so wird man in einer Diktatur überleben können. Bereits hat die Begeisterung über das militärische Gehabe wieder gesiegt. Wäre die Show Realität, wäre der Zuschauer von der Security abgeholt worden…

Unterdessen bauen Roadies die Mauer auf, die am Ende des ersten Teils die Bühne verdecken wird. Man schüttelt den Kopf, weil man bereits wieder vom Geist eingefangen worden war und ist erleichtert, dass die funkige Gitarre von «Anther Brick In The Wall Part 2», der grösste Hit von Pink Floyd, als fünfter Song im Konzer folgt. Das Publikum jubelt, das Publikum tobt, der Regen wäscht den Faschismus ab, das Rockkonzert hat begonnen. «All in all you’re just another Brick in the wall», heisst es im Refrain. Alles in allem ist man nur ein weiterer Ziegelstein in der Mauer.

Selbstgerecht meldet sich das heutige Ich mit dem historischen Wissen um den Weltkrieg und die Folgen von Faschismus und Kommunismus besserwisserisch tadelnd zu Wort. Der Refrain wird im Geiste zu antoher prick in the wall umformuliert, zynisch grinsed stellt man sich die Mauer mit lauter daran hängenden Schwänzen vor. Ein peinliches Bild, wie jede Diktatur und ihre willigen Schergen.

Dennoch lässt mich «The Wall» nicht mehr los. Ich kenne das Werk, ich kenne die autobiografische Komponente, ich kenne den Film mit Bob Geldof, ich kenne aber auch den Autor und die vielen Aussagen, die er damit machen wollte: den Verlust des Vaters, ein rabiates Schulsystem, die Entfremdung vom Publikum als grosser Star, die Drogen, die einem die Sinne vernebeln, die Allmachtsfantasien auf dem Trip. Und doch hat mich die simple Musik mit Feuerwerk und Fahnen gefangengenommen. Fragte mich oft, wie die Grossväter den Satanen des 20. Jahrhunderts auf den Leim kriechen konnten. Nun weiss ich es. Es war nicht die Mauer, die heute Abend im Letzigrund errichtet und gestürzt worden war, sondern meine selbstgerechte, historisch bewusste, politisch korrekte Nachgeborenen Haltung, die mit den ersten drei Akkorden pulverisiert wurde. Der heutige Abend hat mich gelehrt, dass auch ich wohl zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, mitmarschiert wäre. Die letzte Frage lautet nur noch: «Bis wie weit wäre ich gegangen?»

roger waters the wall letzigrund 2013




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