Schöllenen
11. Oktober 2008


Haushohe Felsbrocken, erodiert und gerundet durch wildschleifendes Wasser, liegen im Bett der Reuss, die bloss ein klägliches Rinnsal ihrer selbst ist. Je höher der mittelalterliche Saumpfad in Richtung Gotthard steigt, desto verkrüppelter die Vegetation, die Oktobersonne brennt gnadenlos, man könnte in den Alpes Maritimes unterwegs sein. Nach einer Stunde verjüngt sich das Tal, bis dass kein Weg mehr im Reussbett Platz findet. Kein Wunder, wurde der Pass erst 1237 von den Mailändern er-schlossen: Nichts als grauer Granit, Fels, Fels und nochmals Fels. Links die glatterodierte Felswand, rechts ihre glattgeschliffene Schwester, das Flussbett glattgeschliffener Fels mit runden Felsbrocken, worüber eigentlich die wild tosende Reuss fliessen müsste. Hinter dem engsten Punkt fällt ein überdimensioniertes Kruzifix ins Auge; Gedenken an die Schlacht zwischen den Generälen Lecourbe und Suworow anno 1799, in welcher die Kanonenkugeln nirgends einschlagen konnten, sondern mehrmals am Fels abprallten. Das Russendenkmal an das alpine Gemetzel wurde 1899 eingeweiht, seit 1999 dürfen hier auch die Franzosen ihren Gefallenen gedenken. Angesichts der Gedenkstätte wird einem der taktische Grundgedanke des Réduit in dessen steinernem Herzen am Gotthard offenbart: Im Ernstfall das Mittelland aufgeben, sich in die Alpen zurückziehen und Hitler eine verlustreiche Alpenschlacht aufzwingen. Dass man dabei die Schweizer Nervenzentren Zürich, Basel Bern, Lausanne und Genf der Wehrmacht beinahe kampflos überlassen und die Wehrmacht bloss über ein Jahr die im Réduit ausharrende Armee ohne grössere Kampfhandlung hätte aushungern brauchen, wird einem in der felsigklammen Enge der Schöllenen mit Blick auf die geografische Lage steinern, aber ebenso klar vor Augen geführt. –

Neben ewigem Fels und dem Kruzifix prägen drei Brücken das Bild der zeitgenössischen Schöllenenschlucht: die alte und neue Teufelsbrücke, über welche der Saumpfad und die alte Gotthardstrasse führen, dahinter die Eisenbahnstrecke von Göschenen nach Andermatt. Die alte Gotthardstrasse verschwindet nach der Teufelsbrücke im Urnerloch. Auch der Wanderweg wird in den Tunnel geführt, allerdings folgt nach zwanzig Metern ein neuer Raum und eine Wendeltreppe, wonach man auf dem Dach einer Galerie über der Strasse wandert. Linkerhand ein leicht erkennbarer Bunker: auf die Felswand gemalte Fenster über einer Scheiterbeige; rechterhand eine Staumauer, welche die smaragdfarbene Reuss bändigt. Frage mich, was solch dilettantischen Tarnungen über die Qualitäten einer Armee aussagen. – Vor einem öffnet sich das Urserental, wo der reiche Ägypter Sawiris nach dem Rückzug der durch das Ende des Kalten Krieges überflüssigen Schweizer Armee im so genannten Neu Andermatt ein Ferien- und Wellness-Resort errichten möchte, mitten in einer scheinbar endlosen Wiese auf Höhe der Waldgrenze, unterbrochen von vereinzelten Bäumen, Viehherden und den weissen Häusern und hölzernen Ställen zwischen Andermatt bis Realp.

andermatt 2008




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