Musicus
Wenn Radiohead die Beatles trifft
5. September 2005
Paul McCartney hat sich musikalisch weiter entwickelt. Mit Chaos And CreationIn The Backyard legt er ein grandioses Album vor, das in derselben Liga wie Revolver und Sgt. Pepper spielt. Bewertung * * * * * *

Zu Beginn der Sessions forderte Produzent Nigel Goodrich (Radiohead, Beck) McCartney auf, seine Tourband zu entlassen. Mit dieser Massnahme wollte den McCartney nicht bloss aus dem sicheren Fahrwasser locken, sondern eine Platte einspielen, die nach ihm klingt. Goodrichs Strategie ging auf. In der englischen Presse liess sich McCartney zitieren, dass er das beste Album seit Band On The Run (1973) eingespielt hat. Er untertreibt nicht, musikalisch vielfältiger waren bloss noch die Beatlesalben ab Revolver. Und Chaos And Creation In The Backyard braucht den Vergleich mit ihnen nicht zu scheuen. Und wie beim Spätwerk der Fab Four waren die Aufnahmesessions Konfliktgeladen, denn Nigel Goodrich sagte jeweils ziemlich direkt, wenn er eine für Müll hielt. «Wir brauchten jeweils zwei Tage, um darüber hinweg zu kommen», erzählt McCartney in der Begleit-DVD.

Chaos And Creation In The Backyard ist ein Aufeinandertreffen von Radiohead und den Beatles und somit ist ein stetiger Kampf zwischen der Sonne und den dunklen Wolken. Goodrich bewahrt McCartney davor, ins triviale und kitschige abzudriften, während McCartney mit seinen Melodiebögen Goodrichs Soundlandschaften konterkariert und die melancholische Stimmung zu durchbrechen vermag. Wie Eingangs erwähnt, spielte McCartney nach seinen selbstbetitelten Alben von 1970 und 80 wieder alle Instrumente selbst spielt - ausser natürlich, wo ein Orchester zu hören. Goodrich wollte ein Album, das McCartney klang, denn das wäre es, was die Leute wünschten. Doch lediglich der Ohrwurm Fine Line und die Ballade Jenny Wren, die McCartney als kleine Schwester von Blackbird bezeichnet, klingen für den Hörer vertraut. McCartney verwendet bei Jenny Wren das Fingerpicking Blackbirds und kombiniert es mit Cello aus Yesterday. Herausgekommen ist ein Song, der wie Eleanor Rigby unter die Haut geht.

Voller musikalischer Ideen
Das melancholische At The Mercy zeigt einen gereiften, nachdenklichen McCartney, der Ambient-Hiddentrack folgt dem bombastischen Anyway. Lautmalerisch sind das Xylophon und das Pianoriff in Riding To Vanity Fair. Die grösste Veränderung erfuhr Follow Me, letztes Jahr beim Zürcher Konzert ein sphärischer Song, das auf dem Album als simples Gitarrenstück daherkommt. Gespickt mit guten Ideen ist Promise To You Girl, während English Tea nicht bloss musikalisch daran erinnert, dass McCartney im nächsten Jahr 64 wird, sondern seinerzeit auf Sg.t Pepper einen Song über dieses Alter hatte. Und als wäre das allen noch nicht genug, schüttelt er mit A Certain Softness noch schnell einen Bossa Nova aus dem Handgelenk.

Chaos And Creation ist ein Album geworden, das sich nicht mit einem Mal anhören erfassen lässt, zu breit ist Universum der verwendeten musikalischen Ideen. Ein ähnlich grosses Spektrum deckten die Beatles auf dem Weissen Album ab, einem Doppelalbum notabene. Die Diskussion über das Cover und einen Punktabzug in der Bewertung erspart sich Macca durch den Schuber, in welchem die Limited Edition daherkommt. Der Gestalter hat es tatsächlich geschafft aus dem Namen Paul McCartney ein Anagramm zu machen. Und dass es aus einem P ein Y gibt, braucht noch etwas.

Nicht nur bei Macca, auch bei den Fans ist die Freude über das Meisterwerk gross. (Bild: paulmccartney.com)

Tracklisting:

Fine Line
How Kind Of You
Jenny Wren
At The Mercy
Friends To Go
English Tea
Too Much Rain
A Certain Softness
Riding To Vanity Fair
Follow Me
Promise To You Girl
This Never Happened Before
Anyway (+ Hiddentrack)

 

Paul McCartney
Chaos And Creation In The Backyard
Parlophone

Notenraster:
* Geld verschwendet
* * Eine EP hätts getan
* * * Okay
* * * * gutes Album
* * * * * we are pleased
* * * * * * Meisterwerk

Links:
www.paulmccartney.com

Christoph Brunner (Radio 24) ist zwar kein ausgesprochener McCartney Fan, doch er hat eine sehr objektive Rezension verfasst. Einfach auf nebenstehendes Bild klicken.
Das Paul McCartney Dossier enthält bisher folgende Artikel:

Von Steinen und Käfern (2005, Stones vs Beatles aus der Sicht des Nachgeborenen)
Back In The USSR (2005, Paul McCartney In Red Square - A Concert Film)
Here Today (2004, Konzertbericht vom Konzert im Letzigrund Zürich vom 2. Juni)
Für alle Kinder dieser Welt (2004, The Music & Animation Collection)
Abgespeckt (2003, Beatles: Let It Be Naked)
Zurück aus der neuen Welt (2003, Back In The World bzw. USA CDs, DVD)
Nur ein kleines Detail (2003, zur Umstellung von Lennon/McCartney auf McCartney/Lennon)
Maccas Freiheit (2001, Driving Rain)
Liverpool Soundcollage (2000, Liverpool Soundcollage)
Lauf Teufel Lauf (1999, Run Devil Run und Working Classical)
The Firemen Rushes In (1998, Firemen: Rushes)
Die Welt heut Nacht (1997, Flaming Pie)
Nekrophile Sounds (1995, u.a. Beatles Anthology 1)
Thrillington's Trance Beat (1995: ReIssue Thrillington, 1993: Firemen: Strawberries Ocean Ship Forrest)
Flying Around (1993, Off The Ground)
Unplugged (1992, Unplugged The Official Bootlegg vs Eric Claptons Unplugged)